Wer ist rechts- und wer linksradikal?

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Der Haushistoriker der WELT berichtet am 24. Februar von der „Verkündung“ des Parteiprogramms der „Deutschen Arbeiterpartei, DAP“ vor genau 100 Jahren, das kurze Zeit danach inhaltsidentisch als NSDAP-Programm fungierte. Zwei Punkte dieser Agenda seien „typographisch“, also drucktechnisch, hervorgehoben worden: „Gemeinnutz vor Eigennutz“ und „Brechung der Zinsknechtschaft“.


Der Parole „Gemeinnutz vor Eigennutz“, so der Autor, könne man „spontan erst einmal schwerlich widersprechen“. „Wer mag schon guten Gewissens für Eigennutz plädieren“, fragt er rhetorisch. Ergänzend dazu beschreibt er fast dokumentarisch, dass über die ganze Weimarer Zeit bis in die 30er Jahre speziell der Gemeinnützigkeitsgedanke in Staat und Gesellschaft ein Hauptmotiv für viele Menschen gewesen sei, sich dem Nationalsozialismus zuzuwenden. Diese Beobachtung dürfte zutreffen.

Die Deutsche Arbeiterpartei, die diesen Text unter großem Einfluss von Hitler hervorgebracht hat, wird dann als „rechtsextreme Splittergruppe“ etikettiert, was wohl mit ihrem Status als Keimzelle der NSDAP zu tun haben soll. Unerklärt bleibt jedoch, wie die geschilderten politischen Positionen irgendeiner Art von „Rechtsextremismus“ zugeordnet werden. Denn der Einsatz für „Gemeinwohl statt Egoismus“, vulgo Eigennutz, „Gemeineigentum, die Vergesellschaftung von Wirtschaftsunternehmen, insbesondere Banken und Grund und Boden“ oder generell für „Gemeinwirtschaft“, ein Begriff den eine von Gewerkschaften getragene Bankengruppe im Nachkriegsdeutschland im Namen trug, ist doch eine linke Agenda. Das Gleiche gilt für den Kampf gegen den „Kapitalismus“, der im linken Verständnis geradezu ein Synonym für den Begriff „Zinsknechtschaft“ darstellt.

Die Neugier des Lesers steigt. Er fragt sich: Wie will der Autor die Beschreibung klassisch linker politischer Denkmuster mit dem politisch verfassten Rechtsextremismus zusammen bringen? Ehe der Essayist uns eine überaus erstaunliche Lösung dieses Problems anbietet, bringt er noch die AfD ins Spiel. Er zitiert Martin Hohmann aus dem Jahr 2003, damals CDU, heute AfD-MdB:

Wie viele Menschen in Deutschland klopfen ihre Pläne und Taten auch darauf ab, ob sie nicht nur eigennützig, sondern auch gemeinschaftsnützig sind?

Damit, so glaubt der Schreiber, hat er es den Rechten mal wieder gegeben und der Öffentlichkeit bewiesen: Seht her, Hohmann, die alte CDU, die AfD und die Deutsche Arbeiterpartei von 1920 in einer gemeinschaftlichen politischen Gedankenwelt. Wie will der Autor nun das Kunststück fertig bringen, den von der DAP/NSDAP formulierten Eigentumssozialismus und fundamentalen Antikapitalismus in rechtsradikale Tücher zu wickeln und dieses Päckchen dann auch noch der AfD unterzujubeln?

Die einfachste, überzeugendste und nicht einmal ganz neue Interpretation der dargestellten Forderungen des DAP-Programms wäre, dass der Nationalsozialismus zuerst einmal Sozialismus war. Wer den Homo sapiens, das Individuum, den Bürger eines Staates auf einen Bestandteil eines Kollektivs, sei es das Proletariat oder die Volksgemeinschaft, reduziert, ist Sozialist, Marxist und damit ein Menschenfeind. Insoweit ist das Programm der DAP vom 24. Februar 1920 ein sozialistisches. Seine Autoren sind Sozialisten und damit Linke. Einer solchen naheliegenden Erkenntnis verschließt sich der Autor. Sie würde sein ganzes Rechts-Links-Schema zerstören und damit auch die Agitationsgrundlage gegen die AfD.

Wie windet er sich heraus? Er überschreibt seinen literarischen Versuch: „Die Lüge vom Gemeinnutz“. Man könne die „Formel vom Gemeinnutz vor Eigennutz entzaubern“, schreibt er. Das könne schon ein Schüler einer normalen gymnasialen Oberstufe. Der würde danach fragen, wer denn festlege, was „Gemeinnutz“ sei, und ob gegen Abweichler Sanktionen verhängt würden. Insofern sei die Formel nur „Mittel zum Zweck, um Demokratie und Individualismus zu unterminieren“.

Diese Ausführungen sind wahrhaft spektakulär. Sie befassen sich mit den Folgen einer staatlichen Anordnung von gemeinwohlorientiertem Verhalten. Freiheitsverlust und Schaden für die Demokratie seien die Folgen. Wie das? Wir, alle Bürger, werden seit eh und je verpflichtet, aus Gemeinwohlgründen Steuern zu zahlen (auch eine Rundfunkabgabe für eine Dienstleistung, die wir aus guten Gründen ablehnen), uns aus Gemeinwohlgründen an Verkehrsregeln zu halten, die Sozialpflichtigkeit unseres privaten Eigentums anzuerkennen, unsere Kinder in staatliche Schulen zu schicken, impfen zu lassen, beinahe auch dazu, unsere Organe aus unserem Körper entnehmen zu lassen usw. Bei einem Verstoß gegen solche Pflichten werden wir bestraft und ggfls. unserer elementaren physischen Freiheit beraubt.

Dass diese uns auferlegten Pflichten den Individualismus einschränken ist klar. Ob sie ihn „unterminieren“ oder gar die „Demokratie zerstören“, erscheint zweifelhaft. Es geht bei dem allem um das Maß der Inpflichtnahme des Einzelnen durch ein mit Verbindlichkeit handelndes Kollektiv. Vor einem Übermaß sollen uns eigentlich die Grundrechte unserer Verfassung schützen. Dafür sind sie erfunden worden. Legitimierter „Gemeinnutz“, welcher den „Eigennutz“ insoweit unterordnet, ist daher weder „eine Lüge“ noch hat er was mit Rechtsradikalismus zu tun. Insofern tut der Autor jedem verständigen Leser Gewalt an mit seinen unsortierten Gedanken.  

Pikant ist vielmehr die Frage, ob die im Deutschland der Jetztzeit praktizierten Verhaltens-, Meinungs- und Gesinnungsvorschriften noch eine legitime Form der Einforderung von „Gemeinnutz“ darstellen. Wenn der Generalsekretär der SPD es für legitim hält, jedem Bürger das Eigentum an nur einer Wohnung zu erlauben oder grüne Ökodiktatoren den Speiseplan der Woche staatlich verordnen wollen oder die Erforschung der Geschichte unter das Verbot des „Revisionismus“ gestellt wird oder die kritische Auseinandersetzung mit Religionen zur Geisteskrankheit und kritische Äußerungen über Amtswalter des Staates zum Angriff auf „die demokratischen Institutionen“ erklärt werden, dann ist dies keine legitime Einforderung von „Gemeinnutz“ sondern Totalitarismus, also das Aufsaugen der Gesellschaft durch den Staat. Und wenn man sich die Protagonisten dieses Staatsmodells und ihre Vorstellungen anschaut, dann befinden wir uns im Linksradikalismus und damit beim Programm der DAP, zumindest, was die angesprochenen Inhalte angeht. Es stimmt also, was dieser Tage ein prominenter, akademisch gut ausgewiesener, Medienwissenschaftler sagt: „Viele, die sich heute für links halten, hätten sich im Dritten Reich pudelwohl gefühlt.“     

Bleibt die Frage: Was will der Autor mit dem Hohmann-Zitat beweisen? Er will einen Konnex herstellen zwischen der Gemeinnutz-Parole des DAP-Programms und dem politischen Denken von Hohmann. „Die alte Formel habe noch immer eine gewisse Anziehungskraft“, schreibt der Essayist unter Bezugnahme auf das Zitat. Jedermann, der des Verstehens einfacher Texte mächtig ist, wird an dieser Stelle den Kopf schütteln. Martin Hohmann spricht über das (private) Verhaltensethos „vieler Menschen“. Er unterstellt ihnen bei ihrem Alltagsverhalten („ihrer Pläne und Taten“) eine Grundverantwortung für das allgemeine Wohl seiner Mitmenschen. Er spricht also von wahrhafter „Bürgerlichkeit“ und sonst gar nichts. Das könnte „rechtes Gedankengut“ sein, verehrter Zeitgenosse. Aber zu kritisieren gibt es daran nichts.

Albrecht Glaser, MdB

Berlin, den 25.02.2020